Hannelore hatte geweint.
Das passiert auch mir manchmal. Beim Fussball. Wenn die deutsche Mannschaft aufgelaufen ist und unsere Jungs aus stolzer Brust das Deutschlandlied ins Stadionrund schmettern, dann übermannt mich die Rührung. Einfach so. Ich bin halt nur ein Mann. Oder wenn Schumi gewinnt.
Aber Hannelore strickt ungerührt weiter - manchmal denke ich, sie hat gar keine Gefühle. Und wenn das Fussballspiel noch so spannend ist: Sie strickt. Allerdings - und das rechne ich ihr hoch an - spart sie sich auch jegliche Kommentare und Fragen. Das kann nicht jede Frau. Hannelore ist wirklich etwas Besonderes. Konzentriert, ruhig - und fast kalt - entsteht unter ihren geschickten Händen Masche um Masche. Einzig in der Halbzeitpause unterbricht sie ihr emsiges Tun, um mir ein kaltes Bier zu holen. Dann strickt sie wieder still vor sich hin. Völlig unbeteiligt und sinnentleert.
Wie ausgewechselt ist sie jedoch, wenn so eine Liebesschnulze im Ersten läuft. Ich hab’ mich ja mal dazu breitschlagen lassen, solche Filme mit ihr zu gucken. Dafür haben Fussball-Länderspiele höchste Priorität.
Die Tüte Chips muss neuerdings liegen bleiben, wenn Hannelore guckt. Hannelore guckt nämlich immer so, wenn ich bei einer ihrer Schnulzen knurpschend, knirschend und krümelnd neben ihr sitze (beim Fussball stört’s sie keinen Deut). Und sie mag sich auch nicht mit mir unterhalten. Länderspiele sind da doch kommunikativer. “Gutshof der Liebe” so ein Titel, in dem sich der gutaussehende intelligente und reiche Gutsbesitzer in eine gutaussehende intelligente Arme aus der Stadt verliebt. Irgendwie immer dasselbe. Nur die Titel wechseln, aber das Prinzip bleibt immer gleich. Angefangen hat das Ganze in unserer Kindheit mit Aschenputtel, und heute sehen wir den millionsten Aufguss. Und immer ist’s dasselbe. Immer ist’s Sommer, immer ist die Landschaft schön, immer kann der Gutsbesitzer segeln oder reiten, liebt Kinder und kleine Hunde, sieht gut aus, ist charmant, sportlich, gebildet und hat Geld und Heu.
Hannelore versteht’s nicht, aber sie liebt es. Noch nie hab’ ich gesehen, dass der Gutsbesitzer so aussieht wie ich und seine Prinzessin wie Hannelore. Noch nie haben solche Filme in der kleinen Dreizimmerwohnung in der Großstadt gespielt oder bei Aldi. Der Gutsbesitzer frühstückt immer gutgelaunt in der Vormittagssonne und hat alle Zeit der Welt. Ich hingegen muss frühmorgens mein Toastbrot im Stehen essen, damit ich nicht zu spät zur Arbeit komme. Anstatt stolz hinzureiten nehme ich das Fahrrad, kein Verwalter nimmt mir meine Arbeit ab, ich muss alles selber machen, und ein Segelboot hab’ ich auch nicht. Der Kleingarten muss reichen.
Hannelore sieht das anders. Wahrscheinlich weint sie deshalb oft bei solchen Filmen. Aus Enttäuschung über ihr Leben gleich mit. Sie versteht nicht, dass das nur Fernsehen ist, wo im Krimi die Opfer auch nie “echt” sterben, sondern nur im Fernsehen.
Wenn sie sich doch nur am Länderspiel mehr beteiligen würde. Das ist live und voll das Leben! Männer wie du und ich. Und singen können sie auch.