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Orlanda
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Nach einer Begegnung gestern in der Bahn beim Heimfahren, mit einer uralten Frau, bin ich wieder auf das Thema Altersweisheit gestoßen.
Die Frau sitzt mir gegenüber und liest die Bildzeitung. Zusammengesunken, mit Hut, erinnert sie mich ein wenig an Miss Marple, wenngleich sie auch eher die Mutter der Miss Marple sein könnte. Die Frau ist sicher schon weit über 90, vielleicht auch schon 100. Ihr Mund bewegt sich mümmelnd, so als würde sie einen Kaugummi kauen. Auch darin sehe dieses Zurückfinden, denn das Kaugummikauen läßt mich an einen jungen Menschen denken. Die alte Frau hat wohl keinen Kaugummi im Mund...
Plötzlich unterbricht sie ihre Lektüre, faltet die Zeitung zusammen, holt aus ihrer Tasche ein Brillenetui, darin legt sie ihre Lesebrille. Dafür holt sie eine weitere Brille aus der Tasche und legt sie auf den Abfallbehälter unter dem Fenster.
Sie kramt und sortiert und ordnet und dann ist sie fertig, hält ihre beiden Taschen, den Gehstock und einen Schirm in der Hand. Der Himmel weiß, wie sie das alles beim Gehen tragen wird... Die Frau bleibt aber sitzen. Die Brille liegt noch am Abfallbehälter.
Ich sage vorsichtig, dass da noch ihre Brille liegt, denn gleich fährt der Zug in die nächste Haltestelle ein und ich befürchte, beim Aussteigen wäre die Brille vergessen.
"Das weiß ich schon!", sagt sie, "aber dann ist's zu spät!" - so als hätte sie meine Gedanken beantwortet und lächelt mich dabei an.
Bei der nächsten Station vor dem Hauptbahnhof, an dem ich aussteigen werde, sitzt die Frau immer noch da. Nun stehe ich auf und gehe zur Tür. Im Aufstehen lächle ich ihr mit einem "Aufwiederschau'n" zu. An der Haltestelle müßte man links aussteigen, ich stehe aber bereits auf der rechten, richtigen Seite für die Haltestelle Hauptbahnhof.
"Da müssen's aussteigen, da is' die Tür", ruft mir die alte Frau zu und deutet mit der Hand zur linken Tür. Ich drehe mich ihr zu: "Nein, ich steh nur da, ich steig erst am Hauptbahnhof aus!".
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, als ich in ihr lächelndes Gesicht sehe: Es ist plötzlich nicht mehr das Gesicht einer Greisin, das ich vorhin im Profil sah, sondern ein Gesicht, hinter dem das Gesicht einer jungen Frau steht. Ihre Augen strahlen, ihr Mund lächelt, es scheint, als sei die Zeit ausgeschaltet. Ich erkenne eine Frau, wie sie war und doch noch ist..
Beim Aussteigen winken wir uns zu. Fast fühle ich ein wenig Trennungsschmerz... Wie schade, nicht noch länger gemeinsam zu fahren und zu plaudern...
Während ich die Bahnhofshallen durchschreite, fällt mir der Begriff "Altersweisheit" ein und ich denke mir, dass dieser Begriff nicht das aussagt, was der alte und vorallem der sehr alte Mensch tatsächlich in sich trägt. Es ist mehr als nur das, was wir unter Weisheit verstehen. Weisheit, die den Jungen Bequemlichkeit im Umgang mit Alten bereiten soll...
Alte Menschen tragen in sich ein langes Leben und mir scheint in dem Moment der alte Mensch wie ein glasklarer Bach, dessen Wasser sauerstoffdurchwirbelt und über Gestein geschleudert wieder rein geworden ist, wie er am Anfang war, als er als Quelle aus der Erde kam.
Orlanda