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Orlanda
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Es wäre natürlich sehr einfach, könnte man sich hinsetzen und ohne nachzudenken in einem großen Geschichtswerk lesen.
Die Geschichte ist aber an sich ein lebendiger "Körper", der weder in der Gegenwart noch in der Rückschau in die Vergangenheit eindeutig wahrgenommen werden kann.
Nicht nur, dass vieles aus der Vergangenheit nicht überliefert ist, sondern sich nur in Mutmaßungen und Schlussfolgerungen erklären läßt, sondern auch die Position des Betrachters spielen eine Rolle.
So ist also immer derjenige gefordert, der sich in die Geschichte einläßt. Basis sind freilich immer die Ergebnisse der Forschung, Dokumente und andere Überlieferungen.
Besonders spannend finde ich es, wenn man anhand von Märchen und Sagen realistische Details in der Vergangenheit entdeckt.
Prinzipiell finde ich, dass jeder gefordert ist, sich einzulesen in möglichst viele und verschiedene Quellen, um für sich ein Bild von der Vergangenheit zu erarbeiten.
Für mich war es sehr viel leichter die Geschichte des Mittelalters kennenzulernen als die jüngste Geschichte mit ihren schrecklichen Details. In meiner Kindheit wurde alles was zwischen 1920 und der Gegenwart geschehen war, totgeschwiegen, schöngeredet. Ich erinnere mich an Gespräche zwischen meiner Großmutter und meiner Mutter, in der das Schicksal jüdischer Familien aus meinem Heimatort in skandalöser Weise verharmlost wurde. Ein von der Schule organisierter Besuch einer Ausstellung über das KZ Mauthausen wurde keineswegs besprochen und es gab auch keinerlei Erklärungen dazu. Es wurde uns dargeboten, als handelte es sich um eine Ausstellung um ein ganz gewöhnliches "Gefängnis".
Erst als ich älter wurde erreichte mich das Wissen um diese schrecklichen Jahre bis 1945. Mehr und mehr öffneten sich die Bilder, in denen meine Großeltern, Verwandten und Bekannten verschiedene Rollen spielten. Es gab den bekennenden Na.zi ebenso wie den Onkel, der als Kommunist nach Russland auswanderte (1934) und bei der Belagerung von Leningrad verhungert ist.
Geschichte ist nicht nur eine leere Angelegenheit, die anderen Menschen passiert ist, sie berührt uns auch selbst in jener Zeit, in der wir leben.
Geschichte ist für mich nicht nur eine Ansammlung von Jahreszahlen, sondern eine einzige große Story, manchmal wie ein Kriminalroman, eine Familientragödie. Wir wissen vieles nicht und vieles mag uns falsch dargestellt sein, weil falsche Rückschlüsse gezogen werden. Aber das ist nicht unbedingt von Bedeutung, da die Geschichte der Menschen wechselvoll und lebendig ist wie das Leben selbst. Sich festzukrallen an Fakten und darauf zu beharren, mag auch im Hinblick darauf, dass es oftmals auf die Position des Betrachters ankommt, falsch sein.
Heute haben wir mehr den je die Möglichkeit, uns aus vielen Quellen zu informieren und das, finde ich, ist eine der positiven Seiten der heutigen Zeit.
Orlanda