Der kleine Engel mit der großen Kerze
Wohin trägst Du die grosse Kerze, Kleiner Engel?
In die laute Stadt,wo Neonlichter grell strahlen.
Dorthin, wo Computer- und Fernsehbilder um die Wette flimmern,
und der kalte Glanz des Geldes die Herzen der Menschen verblendet.
Irgendwann, wenn alle Sicherungen durchbrennen,
werdet ihr armen Menschenkinder froh sein über ein kleines Licht in eurer kalten, dunklen Welt.
Herr Ziemer war nicht einmal überrascht, als er zwischen all' den überfüllten Müllbeuteln und dem Häufchen schmutziger Wäsche dieses dünn bekleidete Etwas entdeckte.
Jahrelanger Alkoholkonsum mochte schuld sein an diesen Spinnereien.
"Ich bin ein Engel", stellte sich dieses Etwas Herrn Ziemer freundlich vor.
"Hab` ich mir schon gedacht, weil du ein weißes Hemd anhast", murrte Herr Ziemer.
"Ist meine Zeit gekommen, ach, auch nicht schlimm, was soll ich noch hier in dieser gottverlassenen Schmuddelbude?"
Das kleine Wesen runzelte erzürnt die Stirn
"So darfst du nicht reden! Sehe' ich etwa aus wie der Sensemann?"
Herr Ziemer stutzte einen Moment
"hm, eher nicht … aber was schleppst du diese Riesenkerze mit dir rum, die ist fast größer als du."
Der Engel schmunzelte beruhigt.
"Ich bringe Licht in die Welt, und heute komm' ich zu Dir."
Da musste Herr Ziemer loslachen, aber es war mehr ein bitteres Weinen.
" Ja, da kommst' gerade recht, denn ich weiß inzwischen nicht, wie ich die Stromrechnung begleichen soll."
"Heute ist Heiligabend," frohlockte der kleine Engel.
"Wir wollen alle Sorgen vergessen und feiern."
Herr Ziemer wurde zusehends aufgebrachter. Er drehte sich mit dem Rücken zum Engel, stampfte mit dem Fuß auf und schlug mit geballter Faust auf die morsche Tischplatte, dass der lang liegen gebliebene Staub aufgewirbelt wurde.
Der Engel musste kräftig niesen und husten.
"Weihnachten fällt in diesem Jahr wiederum bei Ziemer aus, geh woanders feiern…." schnaubte der Mann, zwar erst Mitte vierzig, aber gebeugt wie ein Greis.
Jetzt ließ er seinen Frust richtig ab:
"Seit sieben Jahren bin ich arbeitslos und nicht gesund.
Auf welcher Wolke der Glückseligkeit lebt ihr Himmelsscharen, dass ihr nicht mitbekommt, was sich auf der Erde abspielt.
Schau dich um - sieht s hier irgendwie einladend aus?
Und so wie mir, geht s Millionen anderen Menschen auch. Ich steh auf der Seite der Verlierer.
Die da oben werden immer reicher durch ihre Profitgier und nehmen keine Rücksicht auf Mensch und Natur.
Die Meere sind leergefischt, die Rindviecher haben BSE, die Gänse Vogelgrippe und das Schwein die Pest.
Arme Leute wie ich können sich keinen feinen Zucht-Karpfen und kein Bio-Fleisch vom Bauern leisten. "
Herr Ziemer atmete mit einem tiefen Seufzer durch….
"Heiligabend bin ich seit zig Jahren allein.
Als ich noch Arbeit hatte und Weihnachtsgeld bekam, war ich gern gesehen bei der Verwandtschaft und bei Bekannten.
Ordentlich Geschenke hab ich rangeschleppt. Diese Zeiten sind vorbei.
Ein paar Scheiben Brot mit Schmierkäse kann ich dir anbieten."
Der kleine Engel ließ sich nicht beirren.
"Wir werden jetzt gemeinsam Weihnachtslieder singen."
Mit einer eindeutig negativen Handbewegung winkte Herr Ziemer ab.
Der Engel sprach weiter
"Traurige Welt. Die Reichen sind so beschäftigt im Weihnachtstrubel, rennen in die Geschäfte und kaufen, kaufen.
Am 24. Dezember sitzen sie voll gegessen beisammen und bekommen keinen Ton mehr raus.
Und den Armen ist die Lust am Singen vergangen. "
Und nach einer nachdenklichen Pause
"Jesus hat Geburtstag. Willst nicht wenigstens du ihm ein Ständchen bringen? Jesus liebt dich, ganz ohne Geschenke, so wie du bist"
Der Engel wartete die Antwort nicht ab, entzündete die große Kerze und stimmte mit glockenklarer Stimme das "Joy to the world …" an.
"Ich kann kein Englisch", brummelte Herr Ziemer.
"Es ist ein Ros' entsprungen … Stille Nacht, Heilige Nacht ...", jubilierte der Engel.
Ohne es selbst bemerkt zu haben, sang Herr Ziemer inzwischen lauthals und schief mit. 3:45 Uhr zeigte die Uhr hinter halb blindem Glas auf dem Plastiktisch, dort wo einst der Fernseher stand.
Herr Ziemer rieb sich die Augen, sah sich in seiner Mansarde um.
"Allein."
Und so schlief er erneut ein in der Hoffnung, den wunderschönen Traum vom Besuch eines Engels wiederholen zu können.
Um 10:15 Uhr wurde Herr Ziemer von dreimaligem Klopfen an seiner Wohnungstür wach.
In ungewohnt freudiger Erwartung öffnete er.
Auf der abgewetzten Kokosmatte stand ein kleines Weihnachtskörbchen mit Schokolade, Obst und Nüssen.
Dazwischen eine Karte.
"Lieber Herr Ziemer. Wir sind die Schuberts von Gegenüber.
Wunderschön geklungen hat s bei Ihnen am gestrigen Heiligen Abend.
Einige Leute auf der Straße haben sogar unter ihrem Fenster gelauscht. Wir bedanken uns und sähen Sie gern als Gast beim Mittagstisch um 13:00 Uhr."
gedanken , glaube , liebe , verzeihen.......