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signorina
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Hallo Emirena,
mich stört vor allem der Begriff "einig Wutbürger.."
Mondavia müsste jetzt eigenlich wieder sagen, das ist nicht fair, nicht jeder fühlt so. Also nix mit "Einigkeit".
Dann ist es so, dass das Wort "Wutbürger" zum "Wort des Jahres 2010" erklärt wurde. Also auch schon wieder ein "altes" Thema.
Zu Stuttgart 21 heißt es aktuell: "Der Wutbürger ist verschwunden...".
Dafür ist er jetzt offensichtlich nach Griechenland ausgewandert, denn oft heißt es: "Der Wutbürger von Athen...".
Zum Schluss möchte ich aber noch hier zitieren, wie die "Erfindung" Wutbürger zustande kam:
Okt. 2010 (aus Zettels Raum)
Ein Gutmensch erfindet den Wutbürger. Des "Spiegel"-Redakteurs Dirk Kurbjuweit Kleinbürger-Karikatur.
Denunziation statt Analyse
Darauf mußte ja mal einer kommen. Irgendein Gutmensch mußte früher oder später darauf verfallen, den Anti-Gutmenschen zu ersinnen. Aus Rache, als Abwehr. Eine Gestalt, so griffig wie die des Gutmenschen selbst. Also geeignet zum Abstempeln, zum labeling; geeignet als Waffe im politischen Kampf um die Bilder im Kopf.
Die Idee lag auf der Straße, die Figur eines solchen Fieslings in die Welt zu setzen. Jeder hätte darauf verfallen können. Aber nur einer ist darauf gekommen.
Er heißt Dirk Kurbjuweit und ist Chef des Hauptstadtbüros des "Spiegel". Die Figur, die er ersonnen hat und der er im aktuellen "Spiegel" einen Essay widmet (41/2010 vom 11. 10. 2010, S. 26-27), ist der "Wutbürger". Er beschreibt ihn so:
Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker. (...)
Der Wutbürger hat das Gefühl, Mehrheit zu sein und die Lage besser beurteilen zu können als die Politik. Er macht sich zur letzten Instanz und hebelt dabei das gesamte System aus. (...)
Er fühlt sich ausgebeutet, ausgenutzt, bedroht. Ihn ärgert das andere, das Neue, Er will, dass alles so bleibt, wie es war. (...)
Er bindet, verpflichtet sich nicht, sondern macht sein Ding. Was wird aus meinem Land, ist eine Frage, die sich Bürger stellen. Was wird aus mir, ist die Frage, die sich Wutbürger stellen.
Merken Sie etwas, lieber Leser? Ja, genau. Kurbjuweit hat gar keine neue Figur erfunden.
Was er zu beschreiben versucht, das ist der gute alte Kleinbürger. Der nach außen hin brave, aber zum Eklat neigende Kleinbürger, wie Brecht ihn in der "Kleinbürgerhochzeit" karikiert hat und Wolfgang Menge als Ekel Alfred. Borniert, egoistisch, besserwisserisch. Voll meist unterdrückter Wut, die nur selten zum Ausbruch kommt; dann aber umso unkontrollierter. Bei Brecht herrscht am Ende die blanke Zerstörung auf der Bühne.
Was uns Kurbjuweit als den "Wutbürger" anbieten möchte, das ist die Figur des Philisters, des petit bourgeois, wie man sie bei Balzac findet, bei Zola und Maupassant und als Farce bei Feydeau; in der deutschen Literatur vielleicht am treffendsten karikiert von Ludwig Tieck in der "Vogelscheuche", wo der Fiesling eben dies ist, was im Titel steht - eine notdürftig mit Lebendigkeit ausgestattete Vogelscheuche, der "Lederne".
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Bei aller berechtigten Kritik an vielen Unzulänglichkeiten, sich dann aber mit dem aus einer Laune heraus erfundenen "Wutmenschen" zu identifizieren ist nicht mein Ding bzw. Nivea(u).
Signorina