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Orlanda
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@Merope: ".... die Meisten, die heute über Einsamkeit klagen, haben sich doch zu besseren Zeiten auch zurückgezogen, weil sie nicht bereit waren, auf den einsamen Nachbarn, Kollegen, Verwandten einzugehen..."
Das ist eine Pauschalierung und stimmt so nicht! Viele der heute vereinsamten Menschen waren in jungen Jahren damit beschäftigt, sich ganz der Familie zu widmen. Sie haben wohl vergessen oder es nicht für wichtig erachtet, auch "auf sich" zu schauen! Gerade bei Frauen, die in der traditionellen Frauenrolle als Hausfrau und Mutter lebten, war es überhaupt nicht üblich an sich zu denken.
Die Einsamkeit begann, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, die Eltern und Schwiegereltern nach langer Pflege gestorben waren, später auch der Partner oder die Partnerin starb.
Freilich haben viele Alte noch Beziehungen zu ihrer Familie, aber das moderne Leben läuft so ab, dass die Alten nicht mehr geschätzt sind und gerne abgeschoben werden. Das ist ein eigenes Kapitel und würde ein eigenes Thema gut füllen...
Dann gibt es noch die jüngeren Einsamen - das sind manchmal auch solche, die jahrzehntelang um ihre Eltern bemüht waren und es nicht zustande brachten, sich ihr eigenes Leben zu schaffen.
Und alles in allem gibt es noch jene Menschen, die aufgrund negativer Erfahrung ihr Vertrauen zum Nächsten verloren haben und sich in ihre Einsamkeit zurückgezogen haben.
Was Du, liebe Merope, da beschreibst mit dem zweimal pro Woche einkaufen usw. klingt sehr mechanisch. Sicher freuen sich die Leute darüber, aber fraglich ist, ob solche Aktionen die echte Einsamkeit wirklich vertreiben?
Einsam sein im Alter ist mehr als nur niemanden zu haben, der mit einem im Treppenhaus plaudert oder einkaufen geht - obwohl das natürlich eine sehr große Hilfe sein kann.
Einsamkeit vertreibt, wenn sich jemand findet, der einem wirklich auf einer gemeinsamen inneren Ebene begegnet. Sich z.B. stundenlange Erzählungen anhört, echte Anteilnahme an nostalgischen Gesprächen hat, mit dem man sich an einem Sonntagnachmittag zum Kaffee/Tee zu trifft.
Alte Menschen leben zum Teil wieder in ihrer alten Welt. Je älter man wird (das merke ich auch an mir), umso enger wird die Bindung zur sehr weit entfernten VErgangenheit.
Ich glaube, dass die echte innere Einsamkeit eines alten Menschen auch damit etwas gelindert wird, wenn der jüngere Mensch bereit ist, mit ihm kleine Reisen in seine Vergangenheit zu machen. Gerade als Mensch, der sich am Tor zum Alter befindet, hat man doch noch die Erinnerung an eine Zeit, in der der alte einsame Mensch jung war. Mit ihm gemeinsam geht man zurück, begegnet längst verstorbenen Menschen und alten Landschaften, die es nicht mehr gibt. "Weißt Du noch...?" und die Augen des alten Menschen beginnen zu leuchten...
Ich habe bei meinen Ausführungen in erster Linie an meine 91jährige Schwiegermutter gedacht, mit der ich regelmäßig sehr innige und tiefe Gespräche (meistens telefonisch) führe. Die meisten ihrer Freundinnen und Bekannten von früher sind nun schon gestorben und ihre Einsamkeit ist wohl die eines Menschen, den das Schicksal in eine fremde Welt verfrachtet hat. Vieles versteht sie von der heutigen Welt, aber das meiste möchte sie nicht mehr leben.
Sie jammert nicht mehr über ihr Alter, ist unglaublich milde geworden, aber wer genau hinhört, vernimmt auch das, worüber sie nicht laut spricht.
Orlanda